Flechten - Farbenfrohe Lebensgemeinschaften

Erhaltenswerte Lebenskünstler

Neben den großkronigen Bäumen, den prächtigen Ziersträuchern und den bunten Blütenstauden fallen die grünen, grauen oder gelben Flechten kaum auf. Diese kriechenden Lebewesen breiten sich auf Baumstämmen, Zweigen oder am Mauerwerk aus.

Weltweit gibt es etwa 20 000 verschiedene Flechten. In Europa sind ca. 2000 Arten heimisch. Die filzigen Gebilde in grünen, grauen, roten, gelben oder weißen Farben gehören nicht zu den Pflanzen, sondern werden den Pilzen zugeordnet. Anders als die Moose, die oft in Partnerschaft wachsen und echte Pflanzen sind, bestehen Flechten aus einer Gemeinschaft aus einem Pilz und einem sogenannten Photobionten. Das kann entweder eine Grünalge sein oder ein Bakterium. Oft bilden auch mehrere Photobionten eine Partnerschaft mit einem Pilz. Während die typische Beschaffenheit, Farbe und Struktur von der Pilzart bestimmt wird, sind die Algen und Bakterien für die Nährstoffversorgung zuständig. Sie können das Sonnenlicht nutzen und durch Photosynthese in Energie umwandeln. Der Pilz lebt in Symbiose mit den Grünalgen und Bakterien. Er wird mit Nährstoffen versorgt und bietet seinerseits den Partnern eine Wachstumsgrundlage. Flechten sind deshalb eigenständige Lebensgemeinschaften und keine Schmarotzer. Sie nutzen die Rinde der Bäume oder Zweige nur als Grundlage und dringen nicht in die Saftbahnen ein. Dadurch ist es ihnen auch möglich auf Mauerwerk, Felsen oder abgestorbenen Pflanzenteilen zu siedeln.

Überlebenskünstler

Flechten sind immergrün und besonders im Winter erkennbar. Im Sommer fallen sie weniger auf, zumal sie sich flach auf der Rinde von Baumstämmen ausbreiten. Obwohl manche Arten ausgedehnte Bestände bilden und die Rinde eines alten Baumstamms völlig mit ihrem faserigen Geflecht überziehen, werden sie erst bei näherer Betrachtung erkennbar. Meist siedeln sich diese besonderen Baumbewohner an der West- oder Nordseite an. Hier erhalten sie immer wieder Wasser durch Regen und bleiben vor Austrocknung durch die Sonne und trockenen Wind geschützt. Flechten sind völlig auf die Niederschläge angewiesen. Sie können kein Wasserreservoir im Baumstamm anzapfen. Zudem hält sich ihre Wasserspeicherfähigkeit in Grenzen. Große Bestände bilden sich dadurch vorzugsweise in feuchten und ständig schattigen Gebieten etwa in Regenwäldern oder bei uns in Wäldern, Parks oder Felsnischen. Robuste Arten kommen aber auch im Garten zurecht. Sie siedeln sich in den Rindenritzen an oder breiten sich von Mauerfugen ausgehend auf Zaunsockeln, Wänden oder Plattenbelägen aus. Einen Schutz bietet ihnen die Nähe zu Moosen, die auf der selben Wachstumsgrundlage dichte Polster bilden.

Bioindikatoren

Dadurch, dass Flechten eine geringe Speicherfähigkeit haben, reagieren sie nicht nur auf Wassermangel, sondern auch auf Luftschadstoffe schneller als betroffene Pflanzen. Insbesondere ist ihr Gewebe empfindlich für Schwefel durch sauren Regen, sowie für Schwermetalle. Auch radioaktive Teilchen lassen sich in Flechten gut nachweisen. Je nach Art reagieren sie durch Verfärbungen oder durch Absterbe-Erscheinungen auf hohe Luftschadstoffe. Die Filterung der Kraftwerke, die Umstellung von Hausheizungen von Kohle auf effiziente Öl- und Gasbrenner und der Einbau von Katalysatoren in Kraftfahrzeuge hat sich deutlich auf den Bestand der Flechten ausgewirkt. Heute sind auch empfindliche Arten wieder in Großstädten und selbst in Industriegebieten zu finden.

Wissenschaftliche Untersuchungen

Obwohl bereits eine große Vielfalt an Flechten im Garten oder in der Umgebung ein deutlicher Hinweis auf eine hohe Luftqualität ist, können genaue Rückschlüsse nur durch Kenntnisse der Arten und deren Zustand gewonnen werden. Dazu nutzen die Biologen ausgewählte Flechten, die auf bestimmte Stoffe reagieren.

Bei dieser sogenannte Flechtenkartierung werden pro Quadratkilometer Fläche in einem festgelegten Gebiet (z.B. Stadtviertel oder Industriegebiet) einige geeignete Bäume mit Flechtenbewuchs ausgewählt. Die Beobachtung und Bestandsaufnahme der Flechten erfolgt über mehrere Jahre. Anhand der Untersuchungsergebnisse kann dann ein Zustandsbericht über die Lufthygiene angefertigt werden.

Schadstofftoleranz je nach Art

Ebenso seltsam wie sich ihre Formen und Strukturen gestalten, sind ihre Namen. Flechten heißen botanisch beispielsweise Cladonia portentosa, Usnea filipendula, Cetraria islandica oder Pseudevernia furfuracea. Die verschiedenen Arten wachsen auf unterschiedlichen Trägerbäumen. So siedelt sich z.B. eine braune Strauchflechte namens Bryoria fuscescens oft an Birkenstämmen an. Eine andere graue Strauchflechte, die Anaptychia ciliaris, kommt besonders auf Alleebäumen, wie Esche und Ahorn, vor. Diese sehr empfindliche Art ist in einigen Regionen selten geworden oder ausgestorben. Ihr Vorkommen lässt sich daher als Hinweis auf eine hohe Luftqualität interpretieren. Dagegen zeichnet sich die graue Krustenflechte Buellia punctata als unempfindlich für Luftschadstoffe aus. Diese Art eignet sich weniger als Indikator für gute Luft. Das gilt auch die gelbgrüne Krustenflechte Lecanora expallens. Im Durchschnitt sind die Krustenflechten die schadstofftolerantesten Arten. Die Blattflechten (z.B. die großlappige Blattflechte Hypogymnia farinacea) kommen mit geringer Schadstoffbelastung zurecht. Am empfindlichsten reagieren die Strauchflechten (z.B. Ramalina farinacea) auf Abgase, Schwefelverbindungen und andere Gifte in der Luft.

Rindenschutz durch Flechten

Flechten dringen nicht in die Rinde ein, sondern breiten sich nur oberflächlich aus. Diese Baumbewohner sind deshalb völlig unschädlich und tragen sogar zum Schutz der Rinde bei, indem sie insbesondere im Winter vor Rindenrissen durch die Wechselwirkung von Sonne und Nachtfrost bewahren. Flechten sollten an Gartenbäumen erhalten bleiben und keinesfalls mit Schabern oder Bürsten entfernt werden.

Nützliche Baumbewohner

Die Bioindikatoren haben selbst einen Wert als Luftverbesserer. Flechten können durch die Photosynthese Sauerstoff produzieren und Kohlendioxid binden. Die immergrünen Baumbewohner sind auch im Winter nützlich. Während ihnen die Schadstoffe in der Luft oder im Regenwasser zusetzen, kann den winterharten Gewächsen die Kälte nichts anhaben. Flechten bleiben auch bei Frost aktiv. Je nach Art vertragen sie Temperaturen bis Minus 50°C. Obwohl Flechten vorzugsweise an der Wetterseite wachsen und schattige Plätze bevorzugen, halten sie auch hohe Temperaturen im Sommer aus. Bei Hitze fallen Flechten in eine Trockenstarre. Sobald die Luft wieder abkühlt und Regen fällt, werden sie wieder vital.

Eichenmoos für Parfüm

Flechten werden auch industriell genutzt. Sie dient das sogenannte Eichenmoos, eine Strauchflechte namens Evernia prunastri zur Erzeugung von Parfüm. Sie wird in großen Mengen in Südfrankreich gesammelt und nach der Destillation als Duftstoff mit holzig-erdiger Note speziellen Parfüms zugeführt. Allerdings sind die Bestände gefährdet, so dass die Nutzung durch EU-Bestimmungen eingeschränkt wurde.

Wachsen lassen

Es ist eine Untugend, die wunderschönen Kunstwerke der Natur mit Gewalt von der Oberfläche zu entfernen. Das geschieht leider immer wieder in Gärten und öffentlichen Anlagen, indem die Flechten mit dem Hochdruckreiniger von Pflasterflächen und Mauerwerk abgespritzt werden. Das Argument, dass sie eine Rutschgefahr darstellen, gilt normalerweise nicht. Die rauen Polster geben oft mehr Haftfläche als die glatten Pflasterflächen.

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Text und Fotos: Peter Himmelhuber

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