Norwegen: Wo Heuhaufen auf Bäumen wachsen

Norwegen: Wo Heuhaufen auf Bäumen wachsen

„Die guten Dinge sehen und genießen“, das ist Kari Brekkes Lebensphilosophie. Die 86-Jährige hat die Kanne abgesetzt, mit der sie auf dem Friedhof neben der braunen Holzkirche die Gräber ihrer Angehörigen gießt. Mit 27 °C ist es in dem südnorwegischen Dorf Flåm für Anfang Juli ungewöhnlich warm. Es würde sich lohnen, den Sprenger zum Bewässern einzusetzen, aber von diesem Gerät lässt die alte Dame lieber die Finger. Sie kenne sich nicht damit aus, habe aber jede Menge Zeit, um zwischendurch auszuruhen. Gut gelaunt blinzelt sie in die Sonne: „Optimistisch -
so muss man es doch sehen, das Leben, oder etwa nicht?“

Auf einer Wanderung durch das knapp 150 Bahn- oder Autokilometer nordöstlich von Bergen gelegene Flåmsdal liegt es nahe, ihr Recht zu geben und das Leben in den schönsten Farben zu sehen: Schneebedeckte Gipfel wie der Tollanuten (1514 m) im Süden oder der Tarven (1703 m) im Norden recken sich in den azurblauen Himmel. Wasser
fälle, einer mächtiger als der andere, stürzen durch Bergwälder tosend zu Tal. Die Wiesen sind mit Blumen bunt betupft, ein frisch-würziger Duft nach frischem Gras und Schafen liegt in der Luft. Ein gut ausgebauter Weg führt entlang des schäumenden Flåmsflusses, dessen grün-blaues Wasser in rasendem Tempo hinunter zum Aurlandfjord stürmt.

Kari Brekke hat den weitaus größten Teil ihres Lebens in diesem Tal verbracht. Als junge Frau kam sie aus Lillehammer, um in Flåm ihrer Schwester mit dem ersten Kind zu helfen. Dann lernte sie ihren zukünftigen Mann Thorstein kennen und blieb da. Auf dem Hof seiner Familie züchteten die beiden Schafe und Ziegen; außerdem bauten sie Himbeeren an. Das ist lange her, mittlerweile geht Kari ihren Hobbys wie Stricken und Lesen nach, im Winter webt sie.

Berghöfe mit Viehwirtschaft, zumindest im Nebenerwerb, gibt es jedoch im Flåmsdal heute noch. Keine Massentierhaltung, denn dafür sind die Flächen zwischen dem schroffen Fels ohnehin nicht groß genug, sondern kleine familiäre Betriebe, die Milch und Käse produzieren. Die dazugehörigen Wiesen liegen manchmal verstreut und ein gutes Stück entfernt von den Höfen. Dass die kleinen Farmen weiter bewirtschaftet werden, ist der norwegischen Regierung ein wichtiges Anliegen. Schnell würde sich sonst die Bergwildnis diese kultivierten Flächen, die ohnehin nur drei Prozentdes gesamten Landes ausmachen, zurückerobern.

Die vielen schwer zugänglichen Gebiete im Königreich sollen jedoch besiedelt bleiben – das lässt sich der Staat einiges kosten: Norwegen zahlt seinen Bauern mit die höchsten Subventionen weltweit – sowohl für die Produktivität des Hofes als auch für jedes Tier. So nutzen ab und zu auch Traktoren, Milchtransporter oder Autos die größtenteils geschotterte
Wanderstrecke zwischen der Alm in Kårdal und dem Fjord. Dennoch sind die 18 Kilometer nach wie vor eine beschauliche Etappe für Wanderer und Radler.

Letztere haben häufig gerade die Tour auf dem historischen Rallarveg, Norwegens wohl spektakulärster Bikerpiste, bewältigt. Der Fahrradweg überquert in bis zu 1343 Metern Höhe das Hochgebirgsplateau der Hardangervidda. Mit ihren Gletschern, klaren Bergseen und der Kleva-Schlucht ist diese alpine Region das genaue Gegenteil des lieblichen Flåmsdals.

Der seit über 100 Jahren bestehende Rallarveg war ursprünglich natürlich nicht als Radroute geplant: Arbeiter an der Bergenbahn, die seit 1909 Norwegens Hauptstadt Oslo mit der Nordatlantik-Metropole Bergen verbindet, legten die Trasse damals an, um zum Bau notwendiges Material durch das unwegsame Gebirge transportieren zu können. Über 20 steile Serpentinen führt der Weg schließlich hinunter zum Flåmfluss.

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Der Pensionär arbeitete früher bei der Flåmsbahn und war dort für die Elektrik zuständig. – Die kleine Zweiglinie der Bergenbahn wurde als eine der ersten Zugstrecken im Königreich bereits 1944 vollständig elektrisch betrieben. Sie brachte den Menschen unten am Fjord Waren und bot damit eine praktische Alternative zu den oft umständlichen Transportwegen übers Wasser oder die Berge.

Vom Bahnhof gegenüber dem Schiffsanleger, also auf Meereshöhe, starten die Züge Richtung Myrdal, das 865 Meter hoch liegt. Die Steigung von einem Höhenmeter auf 18 Metern Strecke macht die Flåmsbahn zu einer der steilsten Eisenbahnstrecken weltweit – durch spiralförmig in den Fels gesprengte Wendeltunnels schrauben sich die Züge buchstäblich durchs Gebirge in die Höhe.

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Weniger dramatisch als eine Fahrt mit der Flåmsbahn sind die Kreuzfahrten. 110 Luxusliner schieben sich jährlich über den 204 Kilometer langen, mit dem offenen Meer verbundenen Sognefjord in den Aurlandfjord. Sie schwimmen vorbei an steilen Hängen mit Felsspalten wie faltige, rissige Elefantenhaut und gehen am Kai in Flåm-Fretheim vor Anker. Das sieht jedes Mal so aus, als sei in dem kleinen Touristenort mit seinen eher unaufdringlichen Hotels in Folge eines
Baubooms plötzlich ein Appartmenthochhaus aus dem Erdboden geschossen.

Später, vor der Ausfahrt eines der Fjordgiganten hallt dreimaliges Abschiedstuten von den Bergwänden wider. Eine blaue Decke bleibt vergessen auf der Bank vorm Bahnhofsgebäude liegen. Scharen von Touristen flanieren über den Kai, aber zwei Tage später liegt die Decke noch immer ordentlich zusammengefaltet da. Ganz gemäß dem Image vom ehrlichen Norwegen hat sich niemand an ihr vergriffen. „Siehst du“, würde Kari Brekke wahrscheinlich sagen, „da kannst du wieder mal das Gute sehen.“

Informationen:

Anreise:
Ab Kiel fahren Fährschiffe der Color Line-Reederei (www.colorline.de) direkt nach Oslo. Von hier aus geht es mit der Bergenbahn weiter nach Myrdal, dem höchst gelegenen Bahnhof der Flåmsbahn (www.flaamsbana.no). Autofahrer gelangen ab Oslo über den Riksvei R 7, den R 13 und die E 16 nach Flåm.

Unterkunft:
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Aktivitäten:
Neben Wanderungen (auch geführt) in die Bergwelt ringsum und Radtouren (Fahrradverleih in Flåm, www.bike-norway.com) sind von Flåm aus auch Kajaktouren möglich: Tel. 0047/ 57 73 22 29, www.kayakk.com

Durch den längsten Straßentunnel der Welt, den 25 km langen Lærdal-Tunnel (für Radfahrer gesperrt) eröffnen sich des Weiteren Ausflugsziele nördlich des Sognefjords, zum Beispiel der Nationalpark Jostedalsbreen mit seinen Gletschern.

Beste Reisezeit: Mai bis September

Auskunft:
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Text und Fotos: Angelika Wilke
Kompletter Text und weitere Fotos sind lieferbar!